Geschichte



Trotz der bereits 150-jährigen Tradition ist die Geschichte der Osteopathie in Deutschland noch relativ jung. In den 1950er Jahren erreichten die ersten Osteopathen aus den USA das europäische Festland in Frankreich, England, Belgien und den Niederlanden. Noch Ende der 1970er Jahre gab es in Deutschland nur sehr vereinzelt Osteopathen. Diverse Colleges sind erst ab den 1990ern entstanden. Heute lernen Ärzte, Heilpraktiker und Physiotherapeuten an privaten deutschen Schulen/Colleges die osteopathische Kunst in einer 4- bis 6-jährigen Ausbildung, in Vollzeit oder meist berufsbegleitend. Durch Angliederung an Universitäten sind mittlerweile auch Bachelor- und Masterstudiengänge und wissenschaftliche Studien möglich.

 

Die Osteopathie erkläre ich am besten, indem ich ihre Gründer und weitere für mich prägende Lehrer vorstelle:


Dr. Andrew Taylor Still (1828 - 1917)

 

Dr. Still war der Begründer der Osteopathie und zugleich Arzt, spiritueller Seelsorger und Philosoph. Er wurde als Sohn eines Priesters und Arztes in Virginia geboren und von seinem Vater in der Medizin unterwiesen. Nachdem er dreien seiner Kinder beim Sterben hilflos hatte zusehen müssen, brach Dr. Still 1864 mit den althergebrachten medizinischen Ansichten und den institutionellen Religionen.

 

Als Autodidakt in der damals abgeschiedenen Wildnis Amerikas studierte er alle ihm zugänglichen Geistesströmungen seiner Zeit, angefangen bei den Lehren Robert Kochs und diversen Evolutionstheoretikern bis hin zu Mesmerismus und Geistheilung. Schon früh verwendete er Pflanzen als Heilmittel und auch ‚Bonesetter‘-Techniken der Shawnee-Indianer. Dr. Still war bekannt dafür, immer mit einem Knochen in der Hand herumzulaufen, um diesen haptisch genauestens kennenzulernen. Aus all dem entwickelte er ein neues Verständnis von Gesundheit, Krankheit und Heilung und betrachtete den Menschen als eine Einheit aus Körper, Geist und Seele.

 

Dr. Still kam durch seine intensiven Studien zu der Überzeugung, dass der Mensch alle Möglichkeiten der Gesundung in sich selbst trägt, - vorausgesetzt, sein Körper-/Gewebe ist gut beweglich und alle Flüssigkeiten dynamisch im Fluss. Mit seinen manuellen Techniken hatte er nicht die Absicht, Gott und die Natur zu korrigieren, sondern sich anzupassen an die Bedingungen und Kompensationen des Körpers, sodass sich die Gesundheit darin wieder besser entfalten kann. Es erschien ihm sinnvoller, das innere Milieu des Organismus zu stärken, den freien Fluss der Fluida und eine bessere Entfaltung der Selbstregulation zu ermöglichen, als Krankheiten und Erreger zu bekämpfen. Tatsächlich hatten osteopathische Ärzte in den USA während der Zeit der Spanischen Grippe 1918-20 sehr beachtliche Erfolge bei der Behandlung kranker Menschen dokumentiert. Dr. Still wusste, dass nicht der Arzt heilt, sondern die Intelligenz des Lebens/‘Health‘ in jedem Menschen selbst. In diesem Sinne behandelte er nicht Krankheiten, sondern begleitete Menschen in ihrer Ganzheit, - und damit ist Dr. Stills Ansatz hochmodern und hochkomplex, salutogenetisch und systemisch.

 

Trotz seines Widerstands gegen jede institutionalisierte Art von Medizin ließ sich Dr. Still 1892 dazu überreden, eine kleine Lehranstalt in Kirksville/Missouri zu etablieren. Diese nennt sich heute Kirksville College of Osteopathic Medicine. Mit dem wachsenden Erfolg seiner Arbeit wurden immer mehr Colleges gegründet, bis in den 1960er Jahren das Studium der Osteopathie in den USA allgemein anerkannt und eine akademisch-ärztliche Ausbildung wurde.

 

Bücher:

 

- John Lewis: A. T. Still. Vom trockenen Knochen zum lebendigen Menschen

- Christian Hartmann, Hrsg.: Das große Still-Kompendium

- Christian Hartmann, Hrsg.: Erinnerungen an Andrew Taylor Still


Dr. William Garner Sutherland (1873 - 1954)

Er war ein Schüler Dr. Stills und erforschte intensiv die Bewegungen der Schädelknochen und des Liquor- und Nervensystems. Zunächst diente ihm noch ein rein biomechanisch-funktionelles Modell für seine Arbeit, was sich auch in den sanften Sutherland-Techniken für die Mobilisation von Gelenken zeigte, die er entwickelte. Wie sein Lehrer Dr. Still sah aber auch Dr. Sutherland seine Philosophie und Spiritualität als wichtigen Bestandteil der Osteopathie an, beschränkte sich also nicht allein auf körperliche, mechanische Strukturen und Techniken.

 

Nach der Beschäftigung mit E. Swedenborg und H. Spencer vertiefte Dr. Sutherland seine Theorien und entwickelte immer feinstofflichere Techniken und Sichtweisen. Ab Mitte der 1940er Jahre sprach er von der direkten Wahrnehmung der Naturgesetze bei der Behandlung eines Klienten, von der unwillkürlichen Autokorrektur und Selbstheilungskraft im Körper, vom flüssigen Licht, von der Potency, dem Primären Respiratorischen Mechanismus/PRM und dem Atem des Lebens. Er nannte seine Arbeit ‚Ostheopathy in the cranial field‘.

 

Buch:

- Christian Hartmann, Hrsg.: Das große Sutherland-Kompendium



Dr. Rollin E. Becker (1910 - 1996)

Sein Vater hatte bei Dr. Still gelernt. Dr. Rollin Becker kam 1944 in das Lehrerteam von Dr. Sutherland und setzte nach dessen Tod seine Arbeit fort. In den 1960er- und 70er-Jahren begründete Dr. Becker eine neue Entwicklung in der Osteopathie, die Biodynamische Osteopathie. Er versuchte die energetischen und spirituellen Aspekte der Osteopathie in Worte zu fassen, was wirklich bei dieser Arbeit passiert und wie der Wirkmechanismus ist. Dies ist heute noch schwer zu beschreiben. Krankheit könne jeder finden, meinte Dr. Becker und ermahnte die Osteopathen, sich im Körper des Klienten nach der Gesundheit umzusehen, und herauszufinden, was er braucht und wie er sich ausdrücken will.

 

Dr. Becker hat Generationen von Osteopathen inspiriert und ermutigt, nichts mehr zu wollen, nicht mehr absichtsvoll oder konzeptuell zu behandeln, dem Organismus zuzuhören und dem inneren Arzt des Klienten als stillem Partner die Heilung selbst zu überlassen. Dr. Becker sagte über die Behandlung einer körperlichen Dysfunktion:

 

‚Find it, fix it and leave it alone, - and let nature do the rest.’

 

Buch:

- Rollin Becker: Leben in Bewegung & Stille des Lebens


Dr. James S. Jealous

Er wurde, wie er selbst sagte, schon als Osteopath geboren. Dr. Becker war sein Mentor, und in dieser Tradition begann Dr. Jealous mit der Weitergabe neuer Lehrinhalte. 1994 entwickelte er schließlich sein eigenes Konzept der Biodynamischen Osteopathie und veröffentlichte zahlreiche seiner Vorträge. Er unterrichtete in den USA und weltweit, was er von der Natur gelernt und in sein Lehrmodell integriert hatte, etwa das Modell des Flüssigkeitskörpers/Fluid Body und der Mittellinie/Midline, die Wahrnehmung der Ganzheit des Klienten, seiner Gesundheit und Polyrhythmen.

 

Buch:

- Tom Esser, Hrsg.: Das große Jealous-Kompendium


Dr. Michael Shea

In den 1970er Jahren praktizierte Dr. Shea als Massage-Therapeut und Rolfer. Seit 1986 ist er Instruktor am Upledger Institut für Craniosacraltherapie. Dr. Shea erhielt einen Master in Buddhistischer Psychologie an der Naropa University in Boulder/Colorado, und er promovierte in Somatischer Psychologie am Union Institute & University. Bis heute studiert er bei vielen Lehrern, so auch beim 14. Dalai Lama und bei einem Medizinmann im Navajo Reservat in Arizona. Einer von Dr. Sheas Mentoren war Dr. Jealous, der ihn dabei begleitete ‚seinen Embryo zu finden‘, für ihn eine Metapher für Liebe und Mitgefühl. In einem Ärzteprogramm in Kalifornien unterweist er Studenten in Embryologie und prä- und perinataler Psychologie.

 

Mittlerweile unterrichtet Dr. Shea auch seine eigenen, sich ständig in Weiterentwicklung befindlichen Kurse in den USA, in Kanada und Europa, und zwar mit einem breiten Wissens- und Erfahrungshintergrund aus westlichen und östlichen Kulturen (Tibetischer Buddhismus und Medizin). Seine Arbeit basiert auf dem Verständnis der Gesundheit/Health und einer spirituellen Praxis der Entwicklung von Mitgefühl. Er lehrt das Modell der Long Tide, basierend auf der Wahrnehmung der Primären Respiration und ihrem Wechselspiel mit der Dynamischen Stille.

 

In den letzten Jahren liegt sein Fokus auf der Erforschung und Behandlung des kardiovaskulären Systems und auch des Immunsystems mit den Prinzipien der Biodynamik. Eine besondere Rolle nimmt für ihn dabei die weltweite Ausbreitung des Metabolischen Syndroms ein und die Entstehung niedriggradiger Entzündungen auch im Gefäßsystem. Im Bezug auf Porges‘ Polyvagaltheorie regte Dr. Shea an, auch das Feedback des Vagusnervs, beispielsweise aus einem entzündeten Darm an das Gehirn, einzubeziehen, in dem Sinne, dass gesunde Ernährung/‘real food‘ und ein gesunder Darm großen Einfluss haben auf unser Immunsystem, unser Gefühl von Sicherheit und damit auch unser Sozialverhalten bis hin zur Spritualität.

 

Bücher/Info:

- Biodynamic Craniosacral Therapy, Volume 1-5 (englisch)

- The Biodynamics of the Immune System. Balancing the Energies of the Body with the Cosmos

 - The Biodynamic Heart. Somatic Compassion Practices for a clear and vital Heart

- Biodynamische Craniosacral Therapie: Das Herz in der Praxis (englisch und deutsch)

- www.sheaheart.com


Prof. Dr. Erich Blechschmidt (1904 - 1992)

Als ein bedeutender Anatom und Embryologe und Direktor des Anatomischen Instituts der Universität Göttingen erforschte er die Morphologie der frühen vorgeburtlichen Stadien des Menschen. Dabei ließ er 64 Embryo-Modelle aus Kunststoff nachbauen, enorm vergrößert und in den verschiedenen, embryonalen Entwicklungsstadien bis zum Ende der 8. Schwangerschaftswoche, - eine weltweit einzigartige, äußerst lehrreiche Sammlung in Göttingen.

 

Prof. Blechschmidt widersprach der bis dahin gültigen biogenetischen Grundregel der Evolutionstheorie von E. Haeckel, nach der der menschliche Embryo in seiner Frühphase real die stammesgeschichtliche Entwicklung aller Tierstufen durchlaufe. Dagegen postulierte Prof. Blechschmidt das Gesetz der Erhaltung der Individualität: Ein Mensch entwickelt sich von Anfang an immer typisch menschlich, was modernste labortechnische Untersuchungen auch belegen. Der menschliche Embryo hatte demnach nie einen Schabel oder Schwanz, Kiemen oder Schwimmhäute, die jeweiligen Tierembryonen aber sehr wohl.

 

Prof. Blechschmidt erkannte und benannte ‚morphogenetische Felder‘ in der Embryogenese, die die Entwicklung des Embryos steuern. Osteopathen berufen sich immer wieder auf ihn wegen der enormen Wichtigkeit der Embryologie für das Wachstum, die Funktion und Behandlung auch eines Erwachsenen.

 

Bücher:

- Wie beginnt das menschliche Leben

- Die Frühentwicklung des Menschen. Eine Einführung

- Ontogenese des Menschen. Kinetische Anatomie


Dr. Jaap van der Wal (1947 geboren)

Als Anatom und Embryologe an der Uni Maastricht dozierte er auch weltweit in diversen Ausbildungen für medizinische Hilfs-/Berufe in Physiotherapie, Krankenpflege, Geburtshilfe, Traumatherpie, Craniosacraltherapie und Osteopathie. Neben der Faszien-Forschung gilt sein hauptsächliches Interesse immer noch der Embryonalentwicklung des Menschen.

 

Dr. van der Wal beschreibt sich als inspiriert von J.W. von Goethe, Rudolf Steiner, Prof. Jan Hendrik van den Berg, Prof. E. Blechschmidt und anderen Phänomenologen. Er sucht nach dem Geist und den Gesten des Geistes im embryonalen Dasein; und in der phänomenologischen, dynamischen Morphologie findet er eine Möglichkeit, um die Kluft zu überbrücken zwischen Spiritualität und Geisteswissenschaft einerseits und positivistischer Naturwissenschaft andererseits.

 

Seit 2012 pensioniert, widmet er sich seinem Netzwerk ‚Embryo in Bewegung‘ und diskutiert mit Menschen, die hören möchten, was wir eigentlich tun, solange wir ein Embryo sind.

 

Buch/Info:

- Jaap van der Wal und Michaela Glöckler: Dynamische Morphologie und Entwicklung der menschlichen Gestalt. Spirituelle Schulungsmotive für Physiotherapeuten

- www.embryo.nl


Dr. Stephen W. Porges (1945 geboren)

Als Psychiater und Neurowissenschaftler an der University of North Carolina wurde er berühmt durch seine 1994 postulierte ‚Polyvagal-Theorie‘, die er seitdem mehrfach ergänzte. Als eine Theorie wird sie bis heute sowohl wissenschaftlich konstruktiv kritisiert und verbessert, als auch erbittert angegriffen und sogar für tot erklärt.

 

Nichtsdestotrotz nutzen immer mehr Körper- und Psychotherapeuten die klinisch sehr erfolgreich umsetzbaren Erkenntnisse, und auch Patienten profitieren von einer klar formulierten und vereinfachten Darstellung und Einschätzung ihrer Reaktionen und Verhaltensweisen.

 

Von verschiedenen Autoren werden bis heute Übungen entwickelt, um den Vagusnerv und darüber die Selbstberuhigung anzuregen. Seit 2013 erprobt Dr. Porges eine Form der Musiktherapie vor allem bei autistischen Kindern zur Verbesserung ihres ‚Systems des sozialen Engagements‘. Auch viele Studien zur elektrischen Vagus-Stimulation bei chronischen Erkrankungen werden mit signifikantem Benefit durchgeführt, und seit 1997 ist sie für die Behandlung der therapierefraktären Epilepsie zugelassen.

 

Bücher:

- Porges, Stephen W. und van der Kolk, Bessel: Die Polyvagal-Theorie. Neurophysiologische Grundlagen der Therapie. Emotionen, Bindung, Kommunikation und ihre Entstehung

- Porges, Stephen W. und Porges, Seth: Sicherheit und Heilung finden. Die Polyvagal-Theorie in unserem Leben. Körper und Gehirn vor Traumata und Ängsten schützen


Infos

Verband der Osteopathen in Deutschland: www.osteopathie.de

Bundesarbeitsgemeinschaft Osteopathie e.V.: www.bao-osteopathie.de